Die Frauenporträts beleuchten ein spannendes Thema europäischer Migrationsgeschichte: Ab 1930 wanderten jährlich 4000 bis 5000 junge Schweizerinnen nach Großbritannien aus, ab 1960 waren es bis zu 7000 – ein wahrer Exodus.
Haushaltshilfen, Hausangestellte und Au-pairs
Die Emigrantinnen kamen vorwiegend aus ländlichen Gebieten, sie konnten weder lange zur Schule gehen, noch fanden sie in ihrer Heimat Beschäftigungsmöglichkeiten. Darum reisten sie nach England, wo sie meist als Dienstmädchen bei der reichen Oberschicht, später auch als Au-pair in Mittelklassefamilien arbeiteten. Ab 1956 waren in England Au-pair-Anstellungen zugelassen, bei denen im Unterschied zur Haushaltshilfe oder zur Hausangestellten Lohn und Freizeit klar geregelt sind. Die jungen Schweizerinnen wollten nach dem Zweiten Weltkrieg die Sprache und Kultur der Siegermächte kennenlernen und ließen sich nicht abhalten vom nasskalten Wetter, Einsamkeit oder Verständigungsschwierigkeiten. „Weil so viele gegangen sind, gibt es kaum eine Familie, in der nicht irgendjemand von einer nahen oder entfernten Verwandten weiß, die als junge Frau auch einmal in England war – und wieder zurückgekommen oder für immer dort geblieben ist.“
Britische und Schweizer Alltagsgeschichte
Die Porträts der meist weit über 80-Jährigen sind eindringliche Schilderungen von Auswanderschicksalen. Ergänzt werden sie durch sensible Fotografien der Interviewten und ihres unmittelbaren Umfeldes. Viele der Frauen leben seit mehr als 60 Jahren in England, sie haben dort geheiratet und tragen schweizerisch-englische Doppelnamen. Sie erzählen von ihrer ersten Zeit auf der Insel, ihrer allmählichen Eingliederung in die fremde Kultur und ihren Einblicken in die britische und Schweizer Alltagsgeschichte. So kommt die ausgeprägte Klassengesellschaft in England zur Sprache, die Armut und Abgeschiedenheit vieler Orte des Tessins und der Deutschschweiz und die Frauenemanzipation. In England wurde das allgemeine Frauenwahlrecht schon 1928 eingeführt, in der Schweiz erst 1971.
Verständigungsschwierigkeiten
Simone Müller hat die Lebensgeschichten aufgeschrieben, beispielsweise die von Annetta, die Au-pair in der Deutschschweiz war, bevor sie nach London ging. Bei ihrer Ankunft sprach sie kein Wort Englisch. Weil es vielen ihrer Landsleute ähnlich ging, hat sie sich später um Au-pairs aus dem Tessin gekümmert.
Die Fremd- und die Muttersprache ist bei allen Emigrantinnen ein Thema. Zur Hochzeit von Rose in England 1964 reisten die Eltern nicht an, mit der Begründung: „Sie konnten ja kein Englisch.“ Bea hat 60 Jahre in London gelebt und ist nach dem Tod ihres Mannes mit Wehmut in die Schweiz zurückgekehrt: „Nachrichten auf Deutsch verstehe ich bis heute nicht. Am Anfang verstand ich hier sowieso kein Wort. Ich begriff nicht, weshalb hier niemand Englisch sprach.“
Heimweh und Zerrissenheit
Auch vom Heimweh berichten alle mehr oder weniger. Augusta wollte wie viele andere nur kurz in der Fremde bleiben und lernte dann einen jungen englischen Architekten kennen: „Zwei Jahre weggehen und dann ein Leben lang bleiben! Ich hatte große Schuldgefühle meiner Familie gegenüber.“
Die Zerrissenheit spiegelt sich auch in vielen Ehen wider: Narinder, der indische Ehemann von Anna-Maria, dessen Eltern ihn nie in England besucht haben, sprang nach einer Reise in die Heimat in den Ärmelkanal und verschwand für immer.
Einige Schweizerinnen wurden bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges repatriiert. So auch Mina, die traurig berichtet, dass sie eine so wunderbare Stelle wie in London in der Schweiz später nie mehr gehabt hat. Später erfuhr sie, dass ihr Quartier Stamford Hill kurz nach ihrem Weggang „in Schutt und Asche“ gelegt wurde und kaum jemand die Luftangriffe überlebt hat.
Simone Müller: „Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England“. Die vergessenen Schweizer Emigrantinnen
ISBN 978-3-85791-845-2
Zürich: Limmat Verlag 2017, 40,-€
http://www.limmatverlag.ch